Region Tschad-See: Kindersklaven – und dann?

Seit Jahresbeginn haben bereits 27 Kinder in der Region um den Tschad-See in Afrika Selbstmordattentate durchgeführt. Kinder mit Sprenggürteln, von der Islamistensekte Boko Haram in den Tod geschickt, berichten Vertreter von UNICEF.

Etwa 600 Kinder befinden sich derzeit in der Gewalt von Boko Haram – die Mehrzahl sind Mädchen. „Die Medien sprechen ja oft von Kindersoldaten“, erklärt uns Patrick Rose, UNICEF-Verantwortlicher für Mittel- und Westafrika. „Aber in unserem Bereich vermeiden wir diesen Begriff. Denn er trifft überhaupt nicht die Lage dieser Kinder, die wirklich sehr viel komplizierter ist. Oft sind diese Kinder eher eine Art Sklaven: Sie holen Wasser, sie sammeln Feuerholz, sie übernehmen Aufgaben im Haushalt. Das sind also häufig Rollen, die viel weniger verantwortlich – in Anführungszeichen! – sind als die eines Kindersoldaten oder Kämpfers. Eine Mehrzahl der Mädchen wird sexuell missbraucht und dazu gezwungen, die Kinder von Boko-Haram-Kämpfern auszutragen. Geboren werden diese Kinder natürlich in der Regel irgendwo im Wald, ohne ärztliche Hilfe in der Nähe.“

Das alles unter dem Begriff „Kindersoldaten“ zu subsumieren, geht für UNICEF also an der Wirklichkeit vorbei, denn es dieser Begriff wäre fast verharmlosend.

Auch über eine andere Zahl ist die UNO-Behörde für die Rechte von Kindern und Jugendlichen alarmiert: Mehr als 1,3 Millionen Kinder sind in der Region des Tschad-Sees auf der Flucht oder vertrieben. Wir reden hier nicht nur von Nigeria, sondern auch von den Staaten Niger, Tschad und Kamerun.

„Es sind nicht weniger als vier staatliche Armeen, die einen Feldzug gegen Boko Haram durchführen. Diese Armeen haben Ausrüstung und Logistik – das hat Boko Haram nicht. Genau darum benutzt die Gruppe Kinder, um ihre Rebellion fortzusetzen.“

„Die Kinder sind unschuldige Opfer menschlichen Wahnsinns

Selbstmordattentäter – auch das ist so ein Begriff, den UNICEF im Zusammenhang mit den entführten Kindern nicht gerne hört und nicht gerne verwendet, sagt Patrick Rose. „Wenn man von Selbstmordattentaten spricht, dann macht man sich überhaupt nicht klar, inwiefern die Kinder das wirklich bewusst tun oder inwiefern man sie dazu gezwungen hat. Nach drei oder vier Jahren der Gefangenschaft, der Gewalt kann man nicht davon ausgehen, dass diesen Kindern noch wirklich klar ist, was sie da tun.“

Kinder haben einen anderen Zugang zu von ihnen ausgeführter Gewalt und schätzen Situationen völlig anders ein als Erwachsene. Werden die Kinder dann einmal befreit oder es gelingt ihnen zu fliehen, sind sie in der Regel für eine Wiedereingliederung in die normale Gesellschaft verloren. Ihre Traumatisierung hat in ihrer Psyche tiefe Wunden hinterlassen, normale Hemmschwellen sind so gut wie nicht mehr vorhanden. Die dafür benötigten Programme und Projekte gibt es in den betroffenen Staaten so gut wie nicht, denn die kosten ja Geld. UNICEF hat letztes Jahr dafür eine Spendenkampagne durchgezogen, aber der Erfolg war, gelinde gesagt, kümmerlich.

„Ja, das ist für uns bei UNICEF wirklich eine große Sorge. Tatsächlich kommen Kinder immer wieder in ihre örtlichen Gemeinschaften zurück. Aber jetzt, wo es vermehrt wieder zu diesen Attentaten kommt, werden sie sehr misstrauisch betrachtet; die Leute haben Angst vor diesen Kindern. Wir versuchen, mit den Leitern dieser Gemeinschaften – auch mit den religiösen Führern – zusammenzuarbeiten und ihnen begreiflich zu machen: Diese Kinder sind unschuldig! Das sind Opfer. Die brauchen eine geeignete Wiederaufnahme in ihre Gemeinschaft, um wieder neu mit ihrer Kindheit anfangen zu können…“ . Das Verständnis dafür ist aber sehr unterentwickelt und es bedarf noch einer Menge an Überzeugungsarbeit.

Quelle: Radio Vatikan, UNICEF vom 22.4.2017

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